Zurechnung einer Realofferte bei Versorgungsleistung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens

BGH, Urteil vom 25.02.2016, IX ZR 146/15

Leitsatz:
Lehnt der Insolvenzverwalter die Erfüllung eines beidseits zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung noch nicht (vollständig) erfüllten gegenseitigen Vertrages ab, obwohl der andere Teil nach Insolvenzeröffnung noch weitere Leistungen erbracht hat, entstehen hierdurch keine Neuverbindlichkeiten des Schuldners.
BGB §§ 13B, 157 C, StromGVV § 2 Abs. 2, InsO § 80, GasGVV § 2 Abs. 2
Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont richtet sich eine in der Bereitstellung von Versorgungsleistungen (Strom, Gas) liegende Realofferte eines Versorgungsunternehmens hinsichtlich eines massezugehörigen, vollständig fremdvermieteten Grundstücks nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht an den Schuldner persönlich, sondern entweder an den Insolvenzverwalter oder an die Mieter (Fortführung von BGHZ 202, 17 ; BGHZ 202, 158). (amtlicher Leitsatz)

Entscheidung:
Die Klägerin ist ein örtliches Versorgungsunternehmen. Die Beklagte bezog von ihr Strom und Gas für ein der Beklagten gehörendes Wohnhaus in Celle, welches sie vermietet hatte. Über ihr Vermögen wurde im Oktober 2010 das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet und ein Treuhänder bestellt. Die in dem zur Insolvenzmasse gehörenden Haus wohnenden Mieter entnahmen auch nach der Insolvenzeröffnung Strom und Gas aus den Leitungen der Klägerin. Die Klägerin ging davon aus, dass aufgrund der Insolvenzeröffnung das Vertragsverhältnis mit der Beklagten beendet sei, und teilte ihr mit, sie ab dem 27. Oktober 2010 im Rahmen der Grund- beziehungsweise Ersatzversorgung mit Strom und Gas zu beliefern. Ihre Leistungen wurden nur teilweise bezahlt. Mit Schreiben vom 28. September 2011 gab der Treuhänder das Grundstück an die Beklagte frei. Die Beklagte stellte die Versorgung wegen Zahlungsrückständen am 28. Oktober 2011 ein.

Für die Versorgung mit Strom und Gas nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat die Klägerin von der Beklagten insgesamt 1.614,72 € verlangt. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Während des Berufungsverfahrens hat der Treuhänder die Erfüllung des Versorgungsvertrages abgelehnt. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landgericht daraufhin die Beklagte zur Zahlung von 1.309,68 € verurteilt. Die Revision zum Bundesgerichtshof führt für die Beklagte zum Erfolg. Der ursprünglich zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehende Versorgungsvertrag bilde keine Anspruchsgrundlage für die Entstehung von Neuverbindlichkeiten der Beklagten.

Bei diesen Entgeltforderungen für nach Insolvenzeröffnung an gelieferten Strom und Gas handelt es sich nicht um Insolvenzforderungen im Sinne von § 38 InsO, weil sie nicht zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren.Neugläubiger können auch während des laufenden Insolvenzverfahrens ihre nach Verfahrenseröffnung entstandenen Forderungen gegen den Schuldner unmittelbar geltend machen< (BGH, Urteil vom 26. September 2013 - IX ZR 3/13 NJW 2014, 389 Rn. 8). Sie sind von der Durchsetzungssperre des § 87 InsO nicht erfasst (BGH, Urteil vom 26. September 2013 aaO). Ein Schuldner ist durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gehindert, Verträge abzuschließen und neue vermögensrechtliche Verpflichtungen zu begründen. Andererseits können Neugläubiger ihre Forderungen auch während des Insolvenzverfahrens im Wege der Klage durchsetzen (zu allem OLG Celle, NZI 2003, 201, 202 OLG Celle 07.01.2003 -16 U 156/02).

Der Bundesgerichtshof verneint eine Neuverbindlichkeit der Beklagten. Erbringe jemand bei einem beidseits nicht (vollständig) erfüllten Vertrag in Kenntnis der Insolvenzeröffnung vertragsgemäß seine Leistung an die Masse, ohne den Insolvenzverwalter nach § 103 Abs. 2 Satz 2 InsO aufzufordern, sein Wahlrecht auszuüben, könne daraus eine auf diesem ursprünglichen Vertrag beruhende Neuverbindlichkeit gegen den Schuldner auch dann nicht entstehen, wenn der Insolvenzverwalter die Vertragserfüllung später ablehne. Denn der Gläubiger habe die Leistung nicht aufgrund einer neuen Vereinbarung mit dem Schuldner an diesen, sondern aufgrund des vor Insolvenzeröffnung geschlossenen Vertrages an die Masse erbracht.

Allgemeiner Ansicht entspreche es, den stillschweigenden Bezug von Versorgungsleistungen nach Insolvenzeröffnung bei Hinzutreten besonderer Umstände als konkludentes Erfüllungsverlangen des Verwalters nach § 103 Abs. 1 InsO und die hieraus entstehenden Forderungen als sonstige Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 InsO anzusehen (vgl. zu § 17 KO: BGH, Urteil vom 1. Juli 1981 -VIII ZR 168/80 BGHZ 81, 90, 93 f). Ist von einer konkludenten Erfüllungswahl nicht auszugehen, könne der fortgesetzte Energiebezug ohne weitere Erklärungen nach dem objektiven Empfängerhorizont dahingehend interpretiert werden, dass der Verwalter den Abschluss eines neuen Vertrages begehre; hierdurch entstehende Forderungen seien dann nach einer Auffassung sonstige Masseverbindlichkeiten im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1. Andere Stimmen befürworten die Begründung sonstiger Masseverbindlichkeiten unter analoger Anwendung von § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO oder aus ungerechtfertigter Bereicherung der Masse gemäß § 812 Abs. 1 BGB , § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO. Ein Anspruch gegen den Schuldner bestehe jedenfalls nicht.

Die Klägerin hat mit der Beklagten nach Insolvenzeröffnung keinen neuen Versorgungsvertrag geschlossen. In dem Leistungsangebot eines Versorgungsunternehmens ist grundsätzlich ein Vertragsangebot zum Abschluss eines Versorgungsvertrages in Form einer sogenannten Realofferte zu sehen, die von demjenigen konkludent angenommen wird, der aus dem Leitungsnetz des Versorgungsunternehmens Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt. Dieser Rechtsgrundsatz zielt darauf ab, einen ersichtlich nicht gewollten vertragslosen Zustand bei den zugrunde liegenden Versorgungsleistungen zu vermeiden ( BGH, Urteil vom 10. Dezember 2008 - VIII ZR 293/07 NJW 2009, 913 Rn. 6; vom 2. Juli 2014 - VIII ZR 316/13, BGHZ 202, 17 Rn. 10 ; vom 22. Juli 2014 - VIII ZR 313/13, BGHZ 202, 158 Rn. 12). Kommen mehrere Adressaten des schlüssig erklärten Vertragsangebots des Versorgungsunternehmens in Betracht, ist aus Sicht eines verständigen Dritten zu ermitteln, an wen sich die Realofferte richtet. Die objektive Bedeutung des Verhaltens des Erklärenden hat aus der Sicht des Erklärungsgegners Vorrang vor dem subjektiven Willen des Erklärenden (objektiver Empfängerhorizont).

Empfänger dieser Realofferte ist typischerweise derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss am Übergabepunkt ausübt. Dies muss nicht immer der Eigentümer, sondern kann auch eine andere Person sein. Diese Grundsätze gelten nur dann nicht, wenn der Abnehmer der Versorgungsleistung bereits anderweitig feststeht, weil das Versorgungsunternehmen oder der Abnehmer zuvor mit einem Dritten eine Liefervereinbarung geschlossen haben, aufgrund derer die - nur einmal fließende - Leistung in ein bestehendes Vertragsverhältnis eingebettet ist (BGH, Urteil vom 2. Juli 2014, aaO Rn. 12 ff; vom 22. Juli 2014, Rn. 14 ff).

Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist dem Schuldner die rechtliche Einwirkungsmöglichkeit auf ein dem Insolvenzbeschlag unterliegendes Hausgrundstück entzogen. Ein Mietverhältnis besteht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. Ansprüche aus einem gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO nach Insolvenzeröffnung fortbestehenden Mietverhältnis sind Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 InsO), wenn ihre Erfüllung für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgen muss (BGH, Urteil vom 29. Januar 2015 aaO Rn. 33). Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont richte sich daher eine in der Bereitstellung von Versorgungsleistungen liegende Realofferte hinsichtlich eines massezugehörigen, vollständig fremdvermieteten Grundstücks nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht an den Schuldner, sondern entweder an den Verwalter oder an die Mieter. Der Übersendung der Vertragsbestätigung durch die Klägerin an die Beklagte könne deshalb keine rechtliche Bedeutung zukommen. Die Bestätigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 StromGVV /GasGVV habe lediglich deklaratorische, nicht hingegen eine konstitutive Wirkung.

Es bestehen auch keine Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis nach den Vorschriften über die Ersatzversorgung (§ 38 Abs. 1 Satz 1 EnWG). Ein solches kommt nur durch die Entnahme von Leistungen durch Letztverbraucher zustande. Dies sind Personen, die Energie für den eigenen Verbrauch kaufen (§ 3 Nr. 25 EnWG. Ein Vermieter kann zugunsten seiner Mieter vom Grundversorger keine Ersatzversorgung in Anspruch nehmen, weil er die Energie nicht "für den eigenen Verbrauch" kauft (Rosin/Weißenborn, EnWG, 2012, § 38 Rn. 10). Die Beklagte bewohnt das Wohnhaus nicht selbst.

Durch die Freigabe des Grundstücks mit Erklärung des Treuhänders im Schreiben vom 28. September 2011 sind Forderungen aus Lieferungen auch nicht nachträglich zu Neuverbindlichkeiten geworden.Die Freigabe hat nicht zur Folge, dass die Masse von Verbindlichkeiten befreit wird, die zuvor in Verbindung mit dem freigegebenen Gegenstand bereits entstanden sind (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2006 - IX ZR 46/05 NZI 2006, 293 Rn. 12 f; BAG, BAGE 129, 257 Rn. 25 für Arbeitsverhältnisse; BFH, BFHE 218, 435, 439 und ZIP 2008, 283 Rn. 6 für KfzSteuerpflicht; HambKomm-InsO/Lüdtke, 5. Aufl., § 35 Rn. 69; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2014, § 35 Rn. 23; MünchKomm-InsO/Peters, aaO § 35 Rn. 90; Schmidt/Büteröwe, InsO, 19. Aufl., § 35 Rn. 43).

Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 Abs. 1 BGB) bestehen schon deshalb nicht, weil die erbrachten Lieferungen nicht des rechtlichen Grundes entbehren. Diesbezüglich ist eine objektive Betrachtungsweise aus der Sicht des Zuwendungsempfängers geboten ( BGH, Urteil vom 2. November 1988 IVb ZR 102/87 BGHZ 105, 365, 369; vom 21. Oktober 2004 - III ZR 38/04 NJW 2005, 60 f.). Bei einer objektiven Betrachtungsweise handele es sich nicht um Leistungen an die beklagte Schuldnerin, sondern an die Masse oder die einzelnen Mieter. Bei der Feststellung der Vertragsparteien sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kurzfristige und geringfügige Energieentnahmen zu vernachlässigen.