(Beitrag zum Beschluss des BGH v. 19.06.2019, IV ZB 30/18)
Aus der erbrechtlichen Praxis ergibt sich regelmäßig die Auslegungsbedürftigkeit von Testamenten und anderen letztwilligen Verfügungen. Die Gerichte haben sich im Erbscheinsverfahren oder in der sog. Erbenfeststellungsklage entsprechend häufig mit der Auslegung letztwilliger Verfügungen auseinander zu setzen. Ist eine letztwillige Verfügung mehrdeutig, so ist anhand des wirklichen Erblasserwillens zu ermitteln, welche Rechtswirkungen der Testierende im Errichtungszeitpunkt erzeugen wollte. Die Testamentsauslegung ist dabei nicht auf eine alleinige Analyse des Wortlauts beschränkt. Vielmehr hat der Richter auch außerhalb der Testamentsurkunde liegende Umstände heranzuziehen.
Dem Bundesgerichtshof lag in letzter Instanz ein gemeinschaftliches Testament vor, mit dem die kinderlosen, testierenden Eheleute im März 2012 u.a. angeordnet haben, “Für den Fall eines gleichzeitigen Ablebens … soll … das Erbteil … gleichmäßig unter unserem Neffen bzw. Nichte … aufgeteilt werden.“ Im März 2015 verstarb der Ehemann; im Juli 2016 verstarb die Ehefrau. Auf Antrag eines der Neffen erteilte das Nachlassgericht einen Erbschein, der die Neffen und die Nichte als Miterben zu je ¼ Anteil auswies. Eine nach der gesetzlichen Erbfolge Neffen und Nichte vorgehende Cousine der Erblasser beantragte die Einziehung des Erbscheins und ihren Ausweis als Alleinerbin.
Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass die testierenden Eheleute ihre Neffen und ihre Nichte nicht generell als Schlusserben eingesetzt haben. Zur Erforschung des wirklichen Erblasserwillens könnten nicht sämtliche Umstände außerhalb des Testaments herangezogen werden. Das Bürgerliche Recht enthalte bezüglich der Errichtung letztwilliger Verfügungen Formvorschriften. Daraus resultiere, dass der wirkliche Wille des Erblassers in einer formwirksamen letztwilligen Verfügung zumindest angedeutet sein müsse. Das gemeinschaftliche Testament aus März 2012 enthalte keine Erbeinsetzungen für den Fall nicht gleichzeitigen Ablebens. Damit sei eine allgemeine Schlusserbenregelung noch nicht einmal formwirksam angedeutet worden. Die Formulierung “bei gleichzeitigem Versterben“ könne nur solche Fälle erfassen, in denen die Ehegatten innerhalb eines kurzen Zeitraums nacheinander verstürben, ohne dass der Überlebende in dieser Zeitspanne die Möglichkeit hatte, ein neues Testament zu errichten.
Für die Prüfungsreihenfolge bei der Auslegung letztwilliger Verfügungen kann Folgendes gelten:
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Der Tatrichter darf einen bestimmten Erblasserwillen nach seiner Überzeugung als wahr unterstellen.
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Danach hat der Tatrichter im Wege der Auslegung zu prüfen, ob der unterstellte Erblasserwille (formgerecht gem. §§ 2247, 2267 BGB) im Testament zum Ausdruck kommt.
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Kommt der unterstellte Erblasserwille nicht im Testament zum Ausdruck, bedarf es keiner weiteren Aufklärung.
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Schließlich ist das Ergebnis der Testamentsauslegung durch den Tatrichter auf einen Verstoß gegen gesetzliche Auslegungsregeln und die allgemeinen Denk- und Erfahrungsgrundsätze bzw. Verfahrensvorschriften abzusichern.
Nach diesen Grundsätzen war anzunehmen, dass die Bezeichnung der Neffen und Nichte als “unsre“ keine generelle Schlusserbeneinsetzung enthält. Auch das Näheverhältnis zwischen Erblassern und Neffen bzw. Nichte vermag nicht herzugeben, unter welchen Bedingungen diesen nahestehenden Personen Teilhabe am Nachlass zukommen soll.